Empirische Befunde

Epidemiologie

Der Mutismus wird im DSM-5 (2013 OV, 2015 deutsche Übersetzung) unter die Angststörungen subsumiert und nicht mehr, wie beim DSM-IV, unter die Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Code: F94.0 analog zur ICD-10-GM. In der am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen ICD-11 wird die Diagnose "selektiver Mutismus" (6B06) neu codiert.

Einige Medienbeiträge der Laienpresse verweisen bei der Krankheitshäufigkeit auf die Bandbreite 1-7 von 1.000 Kindern . Das entspricht einer Prävalenzrate von 0,1%-0,7%. Diese Zahlen sind jedoch nicht gesichert. Die Studien zur Prävalenzrate sind bisher stark abweichend und reichen von

  • Goodman, Scott & Rothenberger (2007): 0,02%-0,05% über
  • Kopp & Gillberg (1997): 0,18% bis
  • Kumpulainen et al. (1998): 2,0%.

Im DSM-5 (2015, 265) heißt es: "Selektiver Mutismus ist eine relativ seltene Störung und wurde als diagnostische Kategorie in bevölkerungsepidemiologischen Studien zur Prävalenz von Störungen des Kindesalters bisher nicht berücksichtigt. Schätzungen der Punktprävalenz in verschiedenen klinischen oder schulischen Stichproben gehen von Werten zwischen 0,03% und 1% aus."

Literatur:
American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe.
Goodman, R., Scott, S. & Rothenberger, A. (2007): Kinderpsychiatrie kompakt (2. Auflage). Darmstadt: Steinkopff.
Kopp, S. & Gillberg, C. (1997): Selective mutism: A population-based study: A research note. Journal of Child Psychology and Psychiatry and allied Disciplines, 38/2, 257–262.
Kumpulainen, K., Räsänen, E., Raaska, H. & Somppi, V. (1998): Selective mutism among second-graders in elementary school. European Child and Adolescent Psychiatry 7/1, 24–29.

Geschlechtliche Prävalenz

Auch die geschlechtliche Prävalenz ist nicht eindeutig. Bahr (2006) kommt in seiner Übersicht von 276 in der Literatur erfassten Fällen (12 Studien) auf ein Verhältnis von 1,6:1 (170 w:106 m). Hierbei lassen sich Angaben ergänzen.

Zählt man die Untersuchungen von 

  • Spieler (1940) mit einer personellen Geschlechterverteilung von 23:30 (n=53)
  • Brumetz (1979) von 2:49 (n=51)
  • Altshuler, Cummings & Mills (1986) von 2:20 (n=22)
  • Steinhausen & Juzi (1996) von 62:38 (n=100)
  • Dummit et al. (1997) von 36:14 (n=50) und
  • Chavira et al. (2007) von 44:26 (n=70) hinzu, so ergibt sich ein anderes Bild:

Die Metaanalyse von 622 schweigenden Personen (18 Studien, vgl. Hartmann 2014) umfasst 339 weibliche und 283 männliche Betroffene, was einem Verhältnis von 1,2:1 und damit einer annähernd gleichen Häufigkeit bei beiden Geschlechtern entspricht (s. auch ICD-10-GM, 2010, und DSM-5, 2015).

"Die Prävalenz der Störung scheint sich zwischen Geschlechtern und ethnischen Gruppen nicht zu unterscheiden" (DSM-5, 2015, 265).

Literatur:
Altshuler, L. L., Cummings, J. L. & Mills, M. J. (1986): Mutism: review, differential diagnosis, and report of 22 cases. American Journal of Psychiatry, 143/11, 1409–1414.
American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe.
Bahr, R. (2006): Schweigende Kinder verstehen – Kommunikation und Bewältigung beim selektiven Mutismus (4. Auflage). Heidelberg: C. Winter.
Brumetz, H. (1979): Das Problem des Mutismus in älterer und neuerer Literatur. Der Sprachheilpädagoge 11/ 3, 1–7.
Chavira, D. A., Shipon-Blum, E., Hitchcock, C., Cohan, S. & Stein, M. B. (2007): Selective Mutism and Social Anxiety Disorder: All in the Family? Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 46/11, 1464–1472.
Dummit, E. S., Klein, R. G., Tancer, N. K., Asche, B., Martin, J. & Fairbanks, J. A. (1997): Systematic assessment of 50 children with selective mutism. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 36, 653–660.
Hartmann, B. (2014): Mutismus. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer.
Spieler, J. (1944): Schweigende und sprachscheue Kinder. Olten: Otto Walter.
Steinhausen, H. C. & Juzi, C. (1996): Elective mutism: An analysis of 100 cases. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35/5, 606–614.
Weltgesundheitsorganisation (2010): Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10, Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. Übersetzt und herausgegeben: Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Schulte-Markwort, E. und unter Berücksichtigung der Änderungen entsprechend ICD-10-GM (7. Auflage). Bern: Hans Huber, Hogrefe AG.

Sprach- und Sprechstörungen bei Mutismus

Sprach- und Sprechstörungen können mit dem Mutismus verbunden sein. Angaben hierzu weichen jedoch ebenfalls deutlich voneinander ab:

  • Remschmidt et al. (2001): 33%
  • Steinhausen & Juzi (1996): 38%
  • Isensee, Haselbacher & Ruoß (1997): 50%
  • Kristensen (2000): 51,9%.

Darüber hinaus lässt sich eine Querverbindung zu sprachlichen Anpassungsstörungen bei Migrantenfamilien aufzeigen: 21,4% der untersuchten Kinder sind bilingual (vgl. Isensee et al. 1997). Sprachliche Problemfelder werden als komorbide Faktoren bewertet.

Literatur:
Isensee, B., Haselbacher, A. & Ruoß, M. (1997): Elektiver Mutismus: Ein Überblick zu Therapie und Praxis. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 25, 247–262.
Kristensen, H. (2000): Selective mutism and comorbidity with developmental disorders/delay, anxiety disorder, and elimination disorder. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 39, 249–256.
Remschmidt, H., Poller, M., Herpertz-Dahlmann, B., Henninghausen, K. & Gutenbrunner, C. (2001): A follow-up study of 45 patients with elective mutism. European Archives of Psychiatry and Clinical Neurosciences 251/6, 284–296.
Steinhausen, H. C. & Juzi, C. (1996): Elective mutism: An analysis of 100 cases. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35/5, 606–614.

Genetische Dispositionen bei Mutismus

Untersuchungen von Familienanamnesen verweisen auf ein gehäuftes Vorkommen der Merkmale gehemmtes Temperament, Angst und/oder Depression. So lassen sich bei Verwandten ersten Grades folgende Vorbelastungen finden:

  • Black & Uhde (1995): soziale Angststörungen (70%)
  • Steinhausen & Adamek (1997): Schweigsamkeit auf mindestens einer Elternlinie (23,7%)
  • Kristensen (2000): ausgeprägte Schüchternheit (72,2%)
  • Kristensen & Torgersen (2001): Sozialphobie/Schüchternheit auf mind. einer Elternlinie (70,4%)
  • Dobslaff (2005): gehemmte bis mutistische Züge (52,2%)
  • Chavira et al. (2007): Sozialphobie (37%) und Depressionen (29%)
  • Hartmann (2010, 2011): stilles/gehemmtes Naturell auf mind. einer Elternlinie (95,8%) und Ängste/Depressionen auf mind. einer Elternlinie (74,79%)
  • Smith/Sluckin (2015): Schüchternheit in der Familie (88,67%).

Das bedeutet, dass beim Mutismus in der Regel von einer genetischen/dispositionellen Vorbelastung (Diathese) auszugehen ist. "In conclusion, this first, extended family history study of a considerable series of children with elective mutism revealed some evidence that genetic factors may play a significant role in the etiology of this rare disorder in childhood” (Steinhausen & Adamek 1997, S. 111).

Parallelen zu den Ergebnissen der Angstforschung werden deutlich. So konnte die Metaanalyse von Hettema, Neale & Kendler (2001) aufzeigen, dass der Einfluss genetischer Faktoren bei Angststörungen z.T. erheblich ist. In der direkten Verwandtschaft lag die Erblichkeit bei

  • der Panikstörung bei 47,8%
  • der generalisierten Angststörung bei 31,6%
  • den Phobien bei 52,3% und
  • den Zwangsstörungen (OCD/obsessive-compulsive disorder) bei 25,1%.

"The major source of familial risk is genetic" (Hettema et al. 2001, 1573).

"Aufgrund der signifikanten Überlappung zwischen Selektivem Mutismus und Sozialer Angststörung könnte es gemeinsame genetische Faktoren für beide Störungen geben" (DSM-5, 2015, 266).

Bei der Interpretation des ontogenetischen Hintergrundes des partiellen oder totalen Schweigens ergibt sich die Kardinalfrage, weshalb gerade eine mutistische Symptomatik entstanden ist, d.h. warum das Kind, der Jugendliche bzw. Erwachsene entwicklungsbedingt oder als Reaktion auf ein seelisches Trauma nicht z.B. ausschließlich eine Stottersymptomatik, plötzliches Einnässen, Einkoten, (auto-)aggressive Verhaltensstrukturen oder andere Abweichungsmuster zeigt. Warum reagiert der Betroffene ausgerechnet mit dem Schweigen? Eine Antwort auf diese Frage scheint die bei mutistischen Menschen nachweisbare Häufung von introvertierten, sozial zurückgezogenen, kommunikativ gehemmten Verwandten zu sein, die - generationsübergreifend - eine familiäre Disposition für den Mutismus deutlich macht. Der Mutismus wird heute zu den Angststörungen gezählt (s. DSM-5, 2015). "Außerdem erhalten Kinder mit Selektivem Mutismus im klinischen Rahmen fast immer zusätzlich die Diagnose einer anderen Angststörung, am häufigsten die Diagnose einer Sozialen Angststörung (Sozialen Phobie)" (DSM-5, 2015, 265). "Comorbid conditions are prevalent, especially other anxiety disorders and neurodevelopmental disorders, and it is important to assess the child for these" (Oerbeck et al. 2016, 18). Zusätzlich sind Querverbindungen zur Depression, hier vermehrt ab dem Jugendalter, möglich. Das Sprechen und der mit ihm verbundene Antrieb für kommunikative Interaktionen zeigt sich als locus minoris resistentiae, der schon bei geringen psychischen Belastungen mit Auffälligkeiten gerade im sozial-kommunikativen Bereich reagiert.

In der aktuellen Mutismus-Forschung rücken zwei weitere organische Faktoren in den Vordergrund:

  • Zum einen wird das angstbedingte Schweigen, analog zu Depressionen und Ängsten, auf eine Hypokonzentration (Unterversorgung) des Neurotransmitters Serotonin im Hirnstoffwechsel zurückgeführt.
  • Zum anderen werden heute Angststörungen aller Art mit einer Hyperreaktion (Übererregung) der Amygdala (Mandelkern), unserem Angstzentrum im limbischen System, in Verbindung gebracht.

Zusammen mit der Disposition liegen damit aktuell drei organische Erklärungsmodelle für den Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter vor. Eine alleinige psychische Verursachung des Schweigens (Ausnahme: totaler Mutismus in Verbindung mit einem Trauma) oder gar die Ausblendung medizinischer Faktoren gehören damit der Vergangenheit an und entsprechen nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. Das bedeutet, dass für den (s)elektiven Mutismus eine Diathese beim Betroffenen angenommen werden kann.

Den Aspekt der Diathese greift auch der Forschungszweig der "Behavioralen Inhibition" (BI), hier speziell der "Frühkindlichen behavioralen Inhibition", als vorbelastendes Temperamentsmerkmal für die spätere Entwicklung von Angststörungen auf. Gehemmtheit im frühen Kindesalter kann demnach der Vorbote für ein erhöhtes Risiko der sozialen Angst und für den Mutismus sein. "Infant behavioral inhibition, particularly towards social stimuli, is a temperamental feature associated with a lifetime diagnosis of selective mutism" (Gensthaler et al. 2016).

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass bei der Suche nach den Ursachen des Mutismus genetische Faktoren, neurobiologische Faktoren, neurologische Entwicklungsprozesse, Temperamentsmerkmale und soziale Prägungsmechanismen berücksichtigt werden müssen.

Literatur:
American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe.
Black, B. & Uhde, T. W. (1995): Psychiatric characteristics of children with selective mutism: A pilot study. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 34, 847–856.
Chavira, D. A., Shipon-Blum, E., Hitchcock, C., Cohan, S. & Stein, M. B. (2007): Selective Mutism and Social Anxiety Disorder: All in the Family? Journal of American Academic Child and Adolescent Psychiatry 46/11, 1464–1472.
Dobslaff, O. (2005): Mutismus in der Schule. Berlin: Volker Spiess.
Gensthaler, A., Khalaf, S., Ligges, M., Kaess, M., Freitag, Ch. M. & Schwenck, Ch. (2016): Selective mutism and temperament: the silence and behavioral inhibition to the unfamiliar. European Child & Adolescenct Psychiatry 18, 1–8. DOI 10.1007/s00787-016-0835-4. 
Hartmann, B. (Hrsg.) (32010): Gesichter des Schweigens - Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT als Therapiealternative. Idstein: Schulz-Kirchner.
Hartmann, B. (2011): Mutismus und Schule – Grundlagen, Empfehlungen und Strategien für den Umgang mit schweigenden Schülern. Mutismus.de 3/6, 4–23.
Hettema J. M., Neale M. C. & Kendler K. S. (2001): A Review and Meta-Analysis of the Genetic Epidemiology of Anxiety Disorders. American Journal of Psychiatry 158/10, 1568–1578.
Kristensen, H. (2000): Selective mutism and comorbidity with developmental disorders/delay, anxiety disorder, and elimination disorder. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 39, 249–256.
Kristensen, H. & Torgersen, S. (2001): MCMI-II Personality Traits and Symptom Traits in Parents of Children with Selective Mutism: A Case Control Study. Journal of Abnormal Psychology 110/4, 648–652.
Oerbeck B., Manassis K., Overgaard K. R. & Kristensen H. (2016): Selective mutism. In: Rey JM (ed), IACAPAP e-Textbook f Child and Adolescent Mental Health. Geneva: International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions 2016.
Smith, B. R. & Sluckin, A. (Eds.) (2015): Tacklin Selective Mutism. A guide for professionals and parents. London Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers.
Steinhausen, H. C. & Adamek, R. (1997): The family history of children with elective mutism: a research report. European Child & Adolescent Psychiatry 6, 107–111.