Systemische Aphasietherapie

"Als Kopernikus entdeckte, dass die Erde - und damit der Mensch - nicht Mittelpunkt des Sonnensystems ist, löste dies nach einer gewissen Zeit eine religiös-kulturelle und wissenschaftliche Revolution aus, die vielleicht vergleichbar sein wird mit dem Wandel der Welt und dem Selbstverständnis des Menschen in ihr im 20. Jahrhundert. Dies wird aber erst die Zukunft zeigen. Das 20. Jahrhundert wird von einem Leitmotiv geprägt, dem der systemischen Denkweise" (Steffen 1989).

Der Systemtheorie liegt das Verständnis zugrunde, "dass alle Phänomene - physikalische, biologische, psychische, gesellschaftliche und kulturelle - grundsätzlich miteinander verbunden und voneinander abhängig sind" (Capra 1992). Das systemische Menschenbild wird damit nicht durch die Suche nach eindeutigen Kausalbeziehungen bestimmt. Das bedeutet, dass sämtliche Strukturen und Organismen nicht als Einzelphänomene betrachtet werden können, sondern außerhalb ihrer internen Organisation mit der Umwelt verbunden sind und diese (bzw. sich gegenseitig) beeinflussen, d.h. durch Induktionsvorgänge neue Strukturen hervorbringen. Somit sind Systeme "integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf kleinere Einheiten reduzieren lassen. Statt auf Grundbausteine oder Grundsubstanzen konzentriert sich die Systemtheorie auf grundlegende Organisationsprinzipien" (Capra 1992).

Der erkenntnistheoretische Wechsel innerhalb des systemischen Weltbildes drückt sich somit durch Prozessorientierung aus, die schließlich in eine "offene Evolution von Strukturen" (Jantsch 1994) mündet. Es werden zwar Einzelelemente und Teileinheiten wie beim mechanistisch-determinierten Menschenbild angenommen, jedoch in netzartige Ursache-Wirkungs-Kreisläufe integriert, die sich strukturell als neue Ganzheit repräsentieren. Das zirkuläre Kausalverständnis des systemtheoretischen Ansatzes wird häufig mit metamorphologischen Prozessen in der Biologie verglichen.

So sind es dann auch zwei Neurobiologen und Philosophen, Maturana und Varela, die sich mit der Systemhaftigkeit elementarer Lebensvorgänge auseinandergesetzt haben und hier als Begründer systemischer Theorien und Ansätze genannt werden können. Mit ihrer 1973 vorgelegten Darstellung der "Autopoiese" (griech. 'auto' = selbst, 'poiesis' = Schöpfung), welche die "organisatorische Schließung eines jeden lebenden Organismus" (von Foerster 1994) postuliert, ist eine Erkenntnistheorie entwickelt worden, die in den 70er und 80er Jahren zum Verbindungsglied von Natur-, Sozial-, und Geisteswissenschaften wurde. "Denn indem Selbst-Erzeugung als der Schlüssel zum Verständnis biologischer Phänomene betrachtet wird, verlagert sich das Schwergewicht vom Aspekt der Kontrolle auf den der Autonomie" (Maturana 1994).

Der systemtheoretische Ansatz wurde 1996 mit der Veröffentlichung "Menschenbilder in der Sprachheilpädagogik - Ein kasuistischer Beitrag zur systemischen Aphasietherapie" (s. Publikationen) aus der Neurobiologie in die Sprachheilpädagogik bzw. Aphasietherapie (holistischer Ansatz) übertragen.

Der Mensch als System

Das Theorem "der Mensch als System", genauer "der Mensch als autopoietisches System" (Maturana/Varela 1987) verweist auf zwei grundlegende Begriffe des ganzheitlichen Ansatzes: die Autopoiese und das System. Ersteres ist Bestandteil des Zweiten, d.h. das System ist der übergeordnete Terminus dieser Erkenntnistheorie. Organische bzw. lebende Organisationsstrukturen, und damit auch der Mensch, gehören zu den offenen Systemen, da sie in einem Austauschprozess, in einer Interdependenz mit ihrer Umwelt stehen.

Die wichtigsten Attribute sog. "offener Systeme" lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Selbsterneuerung/Autopoiese: Lebewesen erzeugen sich selbst ständig neu.
  • Autonomie durch Selbstregulation: Durch den ungebrochenen, d.h. ständig aufrecht erhaltenden Energiefluss verfügt ein Lebewesen über selbstregulierende (autonome) Organisationsstrukturen.
  • Koppelung: Offene Systeme "sind mit dem Medium, in dem sie existieren, sowie mit anderen Organismen strukturell gekoppelt" (Schmidt 1994).
  • Selbst-Transzendenz: Offene Systeme besitzen "die Fähigkeit, durch die Vorgänge des Lernens, der Entwicklung und der Evolution kreativ über die eigenen physischen und geistigen Grenzen hinauszugreifen" (Capra 1992).

Anthropologische Konsequenzen

  • Der menschliche Organismus ist in biologischer Hinsicht mirkroorganismisch (Zellerneuerung) und makroorganismisch (Fortpflanzung) zur Selbsterneuerung und damit Autopoiese fähig.
  • Er ist als autopoietisches System autonom, d.h. er besitzt eine Eigenverantwortlichkeit und Unberechenbarkeit, Unvorhersagbarkeit seines Handelns (als einschränkende Ausnahmen sind Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen in Folge von hereditär genetisch determinierten Krankheiten zu nennen). Darüber hinaus verfügt der Mensch über drei in sich geschlossene, selbstregulierende Organisationsstrukturen (die Zellsysteme, das Immunsystem und das Nervensystem).
  • In sozialer Hinsicht ist jedes menschliche Individuum mit anderen Systemen strukturell gekoppelt, indem es zum integralen Bestandteil eines sozialen Netzwerkes (Familie, Freundeskreis, Schule, Beruf, Lebensraum) wird. Makrosoziologisch gesehen erfährt die Koppelung einen globalen Aspekt, indem jedes soziale Subsystem einer Gesellschaft untergeordnet ist, jede Gesellschaft einer Nation, und jede Nation der Weltbevölkerung.
  • Schließlich verfügt der Mensch aufgrund seiner geistigen bzw. psychischen Möglichkeiten über die Selbst-Transzendenz, ist sie geradezu ein konstituierendes Merkmal seiner metaphysischen Fähigkeiten.

Therapeutische Konsequenzen

Die 'Autonomie' und 'Koppelung' sowohl des Menschen als auch anderer lebender Systeme kann jedoch durch die eigene körperliche Verfassung wie z.B. Erkrankungen bzw. Behinderungen Einschränkungen erfahren. Bei einer durch eine Apoplexie bedingten sprachlichen (Aphasie) und/ oder körperlichen Behinderung (Hemiparese) ist die betroffene Person einer Beschränkung durch die plötzlich veränderte körperliche Verfassung unterworfen, die sie nur schwer aus eigener Kraft überwinden kann. Die Selbstregulation ist in der Akutphase der Apoplexie unterbrochen und kann nur durch Hilfe von außen, durch ärztliche Maßnahmen, wieder stabilisiert werden. Nach der von außen erfolgten physischen Reorganisation sind jedoch bei leichten und mittelschweren Folgebehinderungen, wenn auch in veränderter Form, die Fähigkeiten zur Autopoiese, Autonomie, Koppelung und Selbst-Transzendenz weiter vorhanden. Bei schweren Hirnläsionen unterliegt die physische, psychische und soziale Autonomie bzw. (soziale) Koppelung des Betroffenen einer ausgeprägten Einschränkung.

In der Therapie gilt es sowohl bei weniger umfangreichen als auch komplexen Behinderungen, die intrapersonelle und interpersonelle Organisation des Betroffenen unter Ausschöpfung der selbstregulierenden Kräfte zu reaktivieren. Das systemische Menschenbild modifiziert die Therapie von Sprachstörungen dahingehend, dass sie sich nicht mehr als Training defekter Leistungskanäle versteht, sondern als pädagogisches Angebot zur Selbsterneuerung
(vgl. Hartmann 1993).

Systemische Aphasietherapie

Die holistische Aphasietherapie impliziert damit folgende übergeordnete Zielsetzungen (vgl. Hartmann 1996):

  • Fokussierung des Einzelnen im Kontext seiner Interaktion mit der Umwelt;
  • Reaktivierung bzw. Stimulation von selbstregulierenden Kräften, die der betroffenen aphasischen Person und ihrem sozialen Bezugssystem zur Verfügung stehen;
  • Angebot einer mehrdimensionalen Förderung, um ein "Zusammenspiel sensorischer, motorischer, kognitiver, sprachlicher, emotionaler und sozialkommunikativer Funktionsbereiche" (Grohnfeldt 1987) zu erreichen;
  • Vermittlung einer sozialen und kommunikativen Handlungsfähigkeit als übergreifendes Ziel.

In der Therapie werden interaktive, reziproke Induktionsprozesse innerhalb des Organismus bzw. zwischen dem desintegrierten Organismus und den therapeutischen Aufgabenfeldern intendiert. 

Beispiel

Die sprachliche Störung führt neben der erschwerten Alltagsbewältigung auf der sprachlichen Ebene zu einer erschwerten Alltagsbewältigung auf der psychischen, emotionalen sowie sozialen Ebene und damit zu einer gesamtorganismischen Beeinflussung. Bei der Veränderung eines Faktors, z.B. der sprachlichen Fähigkeiten, entstehen Rückkoppelungsprozesse sowohl innerhalb des desintegrierten Systems als auch zwischen den therapeutischen Feldern: Der verbesserte Sprachstatus wird emotionale Störungen in Form von depressiven Verstimmungen reduzieren, da sich die betroffene Person als stärker kommunikativ handelnd erlebt. Dies führt des weiteren zu Modifikationen auf der psychischen Ebene, indem ein neuer Lebensmut progressive Lebensperspektiven entwickelt, sowie durch eine Verbesserung der Reintegration auf der sozialen Ebene. Es entsteht ein therapeutischer Dominoeffekt, d.h. ein zirkulärer Induktionsvorgang sowohl innerhalb der personalen und therapeutischen Felder als auch zwischen den Ebenen.

Die Neuorganisation des desintegrierten Organismus unter systemischen Gesichtspunkten involviert fünf Ansatzpunkte: 

  • A. Physische Reintegration:
    - Stabilisierung der hirnarteriellen Durchblutung,
    - Reaktivierung der paretischen Gliedmaßen,
    - Vermeidung von Kontrakturbildungen,
    - Optimierung der gesamtmotorischen und sprechmotorischen Beweglichkeit.
    -> Fachkräfte hierfür sind: Neurologen, Orthopäden, Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten
  • B. Psychische Reintegration:
    - Reaktivierung kognitiver Prozesse,
    - Reduktion neuropsychologischer Störungen wie Agraphie, Alexie, Akalkulie, Apraxie, Störungen der endothymen Funktionen sowie Aufmerksamkeitsstörungen,
    - Erarbeitung von Lebensperspektiven,
    - Überwindung des Schockzustandes.
    -> Fachkräfte hierfür sind: Sprachtherapeuten, Psychologen
  • C. Emotionale Reintegration:
    - Reduktion von psychoreaktiven Depressionen,
    - bestmögliche Akzeptanz der Behinderung,
    - Prävention von Isolationsängsten,
    -> Fachkräfte hierfür sind: Sprachtherapeuten, Psychologen, Familienangehörige, Aphasiker-Selbsthilfegruppen
  • D. Sprachliche Reintegration:
    - Reaktivierung linguistischer Kompetenzen,
    - Reaktivierung modalitätsspezifischer Kompetenzen,
    - Reaktivierung kommunikativer Kompetenzen,
    - Aufbau nonverbaler Kompetenzen.
    -> Fachkräfte hierfür sind: Sprachtherapeuten, Unterstützung durch Familienangehörige, Aphasiker-Selbsthilfegruppen
  • E. Soziale Reintegration:
    - Aufklärung der Angehörigen über das aphasische Störungsbild,
    - Aufklärung der Angehörigen, dass bei der Aphasie keine intellektuelle, sondern eine sprachliche Störung vorliegt, um Missverständnisse zu vermeiden,
    -> Grundprinzip: Kommunikation nicht über den Aphasiker, sondern mit dem Aphasiker,
    - Reintegration des Aphasikers ins Berufsleben, wenn zum Zeitpunkt der Apoplexie eine Berufstätigkeit bestand,
    - Prävention von intrafamiliären und extrafamiliären Isolationstendenzen,
    - Integration der Familienangehörigen in den sprachtherapeutischen und medizinischen Prozess,
    - gemeinsame Erarbeitung von sozialen Handlungsstrategien, um mit Hilfe von Angehörigen und Freunden Aufgaben des Alltags bewältigen zu können,
    - Beratung über die Inanspruchnahme von Vergünstigungen nach dem Schwerbehindertengesetz,
    - Beratung über die Inanspruchnahme von Pflegegeldern durch die Pflegeversicherung,
    - Beratung über Rehabilitationsmaßnahmen und -kliniken,
    - Beratung über die Hilfeleistungen von Wohlfahrtsverbänden (Betreuung durch Zivildienstleistende, Essen auf Rädern etc.),
    - Beratung im Hinblick auf die Inanspruchnahme von ambulanten Pflegediensten,
    - Beratung über Aphasiker-Selbsthilfegruppen.
    -> Fachkräfte hierfür sind: Sprachtherapeuten, Sozialpädagogen, Aphasiker-Selbsthilfegruppen

Mit der systemischen Aphasietherapie liegt ein Ansatz vor, der nicht nur weitreichende Perspektiven im Hinblick auf das anthropologische Verständnis des Menschen und die Entstehung bzw. Behandlung von aphasischen Krisensituationen involviert, sondern die Sprachheilpädagogik bzw. Logopädie stärker denn je in einen interdisziplinären Kontext von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften stellt. Der Mensch wird als integrierte Ganzheit angesehen, in der nicht Teilbereiche (wie die Sprache), sondern grundlegende Organisationsmechanismen therapeutisch angegangen werden mit der essentiellen Unterstützung der selbstregulierenden Kräfte (Hilfe zur Selbsthilfe). Die bisher sich als schwierig erweisende interdisziplinäre Förderung von Aphasikern, die bisher nur in Rehabilitationskliniken möglich war, erfährt durch die systemische Aphasietherapie nicht nur neue Impulse, sondern eine gesundheitspolitische Relevanz.

Aus:
Hartmann, B. (1996): Menschenbilder in der Sprachheilpädagogik - Ein kasuistischer Beitrag zur systemischen Aphasietherapie. Berlin: Spiess. (s. Publikationen)